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DOI: 10.1055/s-2003-37608
Denkanstöße
für eine Veränderung der psychotherapeutischen PraxisPublication History
Publication Date:
05 March 2003 (online)

Soeben ist die 6. Auflage Faber/Haarstrick: Kommentar Psychotherapie-Richtlinien (Rüger, Dahm u. Kallinke 2003) aktualisiert erschienen. Das Buch fasst den aktuellen Stand der Psychotherapie im Rahmen der Psychotherapierichtlinien (www.kbv.de/publikationen/989.htm) zusammen und gibt Hilfen für die alltägliche Praxis. Daher gehört das Buch als unverzichtbare Grundlage für die Arbeit in der Richtlinien-Psychotherapie auf den Schreibtisch jeder Psychotherapeutin und jedes Psychotherapeuten.
Einleitend stellen die Autoren jedoch auch klar: „Ein Kommentar zu den Psychotherapie-Richtlinien kann diese selbst nicht verändern. Auch haben die Kommentatoren nicht die Aufgabe, die wissenschaftlichen Grundlagen von Behandlungsverfahren zu überprüfen. Dies obliegt dem wissenschaftlichen Beirat „Psychotherapie” gemäß § 11 PT-Gesetz. Ebenso wenig haben die Kommentatoren zur Einführung von neuen (zuvor wissenschaftlich überprüften) Behandlungsverfahren in die vertragsärztliche Versorgung Stellung zu nehmen. Hier ist der entsprechende Arbeitsausschuss bzw. Bundesausschuss in der besonderen Zusammensetzung für Psychotherapie zuständig. Ein Kommentar ist eben nur ein Kommentar und bezieht letztlich seine Legitimation daraus, wieweit er Hilfestellung für die Praxis und Entscheidungsgrundlage in strittigen Fällen sein kann.” (S. VI).
Wir möchten das Buch dennoch zum Anlass nehmen, einige Denkanstöße zu geben für aus unserer Sicht schon lange überfällige Veränderungen der psychotherapeutischen Praxis. Die Zeiten der Verunsicherung im Gesundheitswesen scheinen einen progredienten Verlauf zu nehmen. Vor allem im Hinblick auf die ambulante und stationäre Psychotherapie werden Szenarien entwickelt, die sich zwischen Psychotherapie als Wahlleistung, Auflösung der Kassenärztlichen Vereinigungen und Einzelverträge mit Krankenkassen oder Fallpauschalen bewegen. Da Verunsicherung häufig dazu führt, dass Problemstellungen vor allem unter dem Aspekt der Besitzstandswahrung und des drohenden Verlustes von Versorgungsqualität und persönlicher ökonomischer Sicherheit gesehen werden, sollen unsere Denkanstöße als Hilfen verstanden werden, die defensive Position zu verlassen und berufsständische Interessen in den Hintergrund zu schieben.
Die Entwicklung der Psychotherapie in der Bundesrepublik hat eine enorme quantitative und qualitative Entwicklung hinter sich. Die Effektstärken sind außerordentlich hoch, Qualitätssicherung und Wirknachweise beispielhaft und die Akzeptanz innerhalb des Gesundheitssystems hoch. Andere Fachgebiete könnten sich eine Scheibe von den Qualitätssicherungsmaßnahmen sowohl im stationären als auch im ambulanten Setting abschneiden. Dennoch gibt es in diesem sich rasch entwickelnden Fachgebiet neue Anforderungen, denen sich die Psychotherapie stellen muss. Die qualitative Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung bewirkt, dass zunehmend psychisch und psychosomatisch schwer kranke PatientInnen in die Praxen kommen, PatientInnen mit chronisch körperlichen Erkrankungen oder mit einer psychotischen Grunderkrankung. Die traditionelle und vielerorts immer noch übliche Praxisorganisation mit einer Sitzung pro Woche im Rahmen einer Langzeitbehandlung erfüllt häufig nicht die Erfordernisse einer guten Versorgung dieses Klientels. Kürzere Therapiezeiten und eine niedrigere und flexible Frequenz scheinen oft für diese Patientengruppen ein besseres Therapieangebot darzustellen. Dies ist zwar nach den Psychotherapierichtlinien auch heute schon möglich, ist aber mit zusätzlichem Aufwand und zusätzlichem Risiko verbunden: Erscheint beispielsweise ein Patient nur zur ersten halben Sitzung und muss die zweite aufgrund einer Verschlechterung seiner Grunderkrankung absagen, kann die Sitzung nicht abgerechnet werden. Die Bewilligungsschritte sollten abgeändert werden und zwar einheitlich für alle Therapieverfahren. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass heute der Umfang der ersten Kostenzusage für einen Patienten oft letztlich davon abhängt, welche Kollegin oder welchen Kollegen er im Branchenbuch angerufen hat bzw. bei wem er zuerst einen Platz bekommt. Indikations- und Therapieentscheidungen werden zu oft durch die aktuelle Verfügbarkeit von Therapieplätzen bestimmt. Wir denken deshalb, dass es prinzipiell eine ausreichend finanzierte verkürzte Kurzzeittherapie von insgesamt 15 Sitzungen ohne Formalitäten (zumindest für die erfahrenen TherapeutInnen) im Rahmen einer psychotherapeutischen Basisversorgung geben sollte. Die Erfahrungen (z. B. in den psychotherapeutischen Ambulanzen und Polikliniken) zeigen deutlich, dass viele der Störungen in diesem Rahmen ausreichend behandelt werden können und sich viele Probleme lösen lassen. Danach könnte sich bei einer Indikation für eine längere Psychotherapie ein erster gutachterpflichtiger Bewilligungsschritt von 45 Sitzungen anschließen. Nur falls darüber hinaus noch eine Behandlungsnotwendigkeit besteht, kann in begründeten Fällen ein weiterer Schritt von 20 Sitzungen bis zur Höchstgrenze von 80 Sitzungen für alle Verfahren bewilligt werden. Daneben muss für chronisch psychisch oder auch körperlich Kranke die Möglichkeit für eine langfristige Anbindung an eine niederfrequente psychotherapeutische Versorgung eröffnet werden, im Einzelfall auch weit über 80 Sitzungen, sowie prinzipiell auch die Möglichkeit zu einer psychoanalytischen Langzeittherapie. Dabei wird deutlich, dass es im jetzigen System keinerlei Anreize für eine konzentrierte und hohe Versorgung im Rahmen einer psychotherapeutischen Grundversorgung und damit den Abbau von Wartezeiten gibt. Mehr PatientInnen machen mehr organisatorische Arbeit, die aufwändigen Anfangskontakte (probatorische Leistungen) werden aber deutlich schlechter honoriert. Die in diesem Zeitraum und bei diesem Klientel notwendigen Kontaktaufnahmen mit Vor- oder Mitbehandlern werden nach dem EBM sehr eingeschränkt erstattet. Telefonische Kontakte mit beispielsweise chronisch körperlich kranken PatientInnen können gar nicht abgerechnet werden. So besteht die Gefahr, dass bei all dem Aufwand nur geringe Anreize bestehen, den/die PatientIn möglichst schnell und zeitsparend zu versorgen. Es „lohnt” sich mehr, leicht bis mittelschwer erkrankte PatientInnen auf lange Wartelisten zu setzen - dies verringert die Ausfallquoten, beinhaltet nicht so viel Kommunikationsbedarf und hält den organisatorischen Aufwand gering. Dazu ist jedoch anzumerken: Wird es nicht zunehmend schwierig in der Argumentation werden, wieso ein Patient, der ein halbes bis ein Jahr auf einen Therapieplatz warten kann, überhaupt eine Indikation für eine Psychotherapie aufweist? Die Bewilligungskontingente beinhalten eine wirtschaftliche Sicherheit für die Behandler: Im Gutachterverfahren befürwortete und von Krankenkassen genehmigte Kontingente können nicht der nachträglichen Wirtschaftlichkeitsbeurteilung unterzogen werden, da im Gutachten die Wirtschaftlichkeit und medizinische Notwendigkeit schon festgestellt wurde - anders als in der stationären Psychotherapie, bei der die Krankenkassen zur Zeit massiv versuchen, nach abgeschlossenen Behandlungen die Wirtschaftlichkeit und sogar die medizinische Notwendigkeit rückwirkend infrage zu stellen. Einmal bewilligte Kontingente lösen bei den Versicherten jedoch häufig die Analogie zur Physiotherapie aus (wie viele „Massagen” habe ich noch?) und bieten kaum einen Anreiz für die TherapeutInnen, Therapien vorzeitig zu beenden. So entwickeln sich im Einzelfall sogar „Bündnisse”, die eine möglichst lange Therapiedauer zum Ziel haben. Viele der führenden Therapie„vordenker” halten die starre Schulenbezogenheit und das Kombinationsverbot von Verfahren für überholt und nicht mehr dem wissenschaftlichen Stand entsprechend. Die PT-Richtlinien erlauben jedoch eine solche Kombination nicht, TherapeutInnen mit entsprechenden Doppelqualifikationen müssen in Anträgen Teile ihrer Arbeit und Erklärungsmodelle verschweigen, um nicht eine Ablehnung zu riskieren. Gerade in der ambulanten Versorgung haben wir aber noch einen enormen Nachholbedarf an Erfahrung mit Kombinationsbehandlungen und mit konsekutiven Modellen, so wie es in der stationären Psychotherapie schon lange üblich ist. Wir müssen inzwischen sogar feststellen, dass dadurch PatientInnen im ambulanten Setting notwendige Therapiemaßnahmen schlicht vorenthalten werden, die Essstörungen sind ein Beispiel dafür. Der mancherorts geäußerte Ärger über die GutachterInnen nährt sich vom Glauben, dass nachfolgende Modelle für TherapeutInnen vorteilhafter wären. Ein Blick auf die TK-Modellversuche in Südbaden und Hessen könnte hier manche Einstellung korrigieren. Dabei ist unumstritten, dass das Gutachterverfahren einer Revision unterzogen werden muss. Es muss transparenter, vielleicht auch in manchem kollegialer werden. Hierzu gibt es Vorschläge, die verschiedentlich in letzter Zeit publiziert wurden (Köhlke 2001, Kallinke u. Kosarz 2001, Merod u. Vogel 2002, Psychotherapeutenkammer Niedersachsen 2002).
Die Psychotherapie wird ihre Rolle im Gesundheitswesen dann zum Wohle der PatientInnen ausbauen können, wenn sie zum einen bereit ist, sich auch ständig selbstkritisch mit Entwicklungen auseinander zu setzen und nicht immer auf andere Berufsgruppen zu verweisen, die keine Qualitätssicherung betreiben. Es ist jedoch zum anderen nötig, dass über die Schulen und Berufsgruppen hinweg sich Koalitionen bilden, die für weitere Verbesserungen im System kämpfen. Bei solchen Koalitionen sollte man auch überlegen, ob man nicht GutachterInnen ebenso mit einbeziehen kann. Es drängt sich der Eindruck auf, als seien diese Fragen bei den Verbänden nicht gut aufgehoben, da dort Profilierung Vorrang vor Koalition zu haben scheint.
Unser Wunsch ist eindeutig:
Unser Kommentar zu der gegenwärtigen psychotherapeutischen Praxis soll helfen, diese zu verändern. Nutzen wir den Dialog, vernünftige und versorgungsorientierte Positionen aus der Praxis zu formulieren und der Politik, den Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen sowie unseren eigenen Berufsverbänden mit guten Argumenten „Druck” zu machen, die notwendigen Reformen und Veränderungen herbeizuführen.
Auch wenn wir uns durchaus bewusst sind, auf mehrere Füße gleichzeitig zu treten, würden uns die Meinungen und Vorschläge der PiD-Leser zu unseren Denkanstößen sehr interessieren.
Literatur
- 1 Kallinke D, Kosarz P. Gutachterverfahren in der Psychotherapie: sinnvoll und verbesserungsfähig. Deutsches Ärzteblatt. 2001; 98 A-2554
- 2 Köhlke H U. Das Gutachterverfahren in der Vertragspsychotherapie. Eine Praxisstudie zu Zweckmäßigkeit
und Verhältnismäßigkeit. Tübingen; DGVT-Verlag 2001
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- 3 Merod F R, Vogel H. Zur Weiterentwicklung des Gutachterverfahrens in der ambulanten Verhaltenstherapie. Ein Diskussionsvorschlag. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 2002; 34 105-112
- 4
Psychotherapeutenkammer Niedersachsen. Das Antrags- und Gutachterverfahren in der Richtlinienpsychotherapie: Stellungnahme des Ausschusses für Qualitätssicherung der PKN vom 8.9.2002 (www.psychotherapeutenkammer-nds.de)MissingFormLabel - 5 Rüger U, Dahm A, Kallinke D. Faber/Haarstrick. Kommentar Psychotherapie-Richtlinien. München; Urban & Fischer 2003
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